Bulletin 2024.5

Der Akt und die Kunst des tiefen, galaktischen Zuhörens

von Rosalyn D’Mello
#Contemporary positions
Adolf Vallazza in der Ausstellung Adolf Vallazza 100, Museion, 2024. Photo: Daniele Fiorentino

Eine braune Immigrantin findet sich am Fuße eines kreisförmigen Totems wider. Mit dem daraufhin in ihr aufsteigenden Gefühl der Ehrfurcht, das sich in die Poren ihres Körpers schlich, hatte sie nicht gerechnet. Der Blick auf das erste Element einer Gruppierung skulpturaler Wesen löste in ihrer Blutbahn jenen eigentümlichen Schwall aus, der normalerweise im Angesicht des Stillen, des Gewaltigen erfolgt: von Nektarspuren auf einem sich entfaltenden Blatt, von der rasenden Einsamkeit schneebedeckter Alpengipfel, von einer Ansammlung Magnolienbäume im Zustand ekstatischer Blüte – jenem sich einmal im Jahr darbietenden Anblick, der jedwede Ungläubigkeit aussetzt –, von Kastanienwäldern im Frühling, aus denen frisches Chlorophyll hervorbricht, von den ihre Majestät herunterspielenden Stämmen von Eichen, vom erdenschweren Widerstandsvermögen moosbewachsener Felsen. Beispiele für das ganz gewöhnliche, alltägliche Wunderbare.

Einige Minuten zuvor hatte sie sich im benachbarten Café mit einer befreundeten Kuratorin getroffen. Sie tauschten Geschichten über ihre jeweiligen Forschungen sowie über den Alltag als Mutter aus, der ihr Leben erdete. Nach Begleichen der Rechnung am Tresen machten sie sich auf den Weg zur Museion Passage. Sie hoffte, Vallazzas Skulpturen „zufällig zu begegnen“ oder aber sie aktiv „aufzusuchen“, bewusst um sie herumzuschlendern und sich somit der Handlungshoheit über die ihr bis dahin unbekannten Werke zu vergewissern. Das bildete seit jeher ihre sichere Strategie für das Ringen mit dem Unbekannten – es zunächst vorsichtig zu umkreisen, Eindrücke erwachsen zu lassen. Doch Vallazzas Totems, Menhiren und vogelähnlichen Formen konnte man sich nicht von der Seite nähern. Sie überragten den weiten Eingangsbereich der Museion Passage. Einerseits hatte sie hierdurch den Eindruck, umso kleiner zu wirken, andererseits schienen die Skulpturen sie auf Augenhöhe zu begrüßen, so als richteten sie sich auf, um ihrem Blick zu begegnen.

Adolf Vallazza 100, exhibition view, Museion, 2024. Photo: Daniele Fiorentino

Als sie später versuchte, dem in ihr nachklingenden Gefühl auf den Grund zu ergehen und mehr über Vallazzas künstlerische Praxis zu erfahren, unterlief ihr – trotz der wachsenden Fähigkeit, sich in den beiden Sprachen zurechtzufinden, die ihr bis zu ihrer Ankunft hier vor vier Jahren gleichermaßen fremd gewesen waren – ein versehentlicher legasthenischer Lapsus. Anstelle von scultura las sie scriptura. „Kann eine Skulptur denn skriptural sein?“, fragte sie sich. Könnte hierin etwa der Grund für das unerbetene Gefühl der Ehrfurcht liegen?

Im Laufe ihres Wanderlebens war sie zahlreichen Kunstwerken begegnet, die nach der Aufmerksamkeit der Betrachtenden verlangten, um ihre Bedeutung freizugeben, nach einem Akt dauerhafter Anschauung, der Sinnhaftigkeit zu entlocken vermochte. Vallazzas Skulpturen hingegen schienen nicht einer solchen Kategorie anzugehören. Sie vermittelten eine erstaunliche Unmittelbarkeit, so als wäre das rohe Ausgangsmaterial durch die Art der künstlerischen Intervention umgestaltet und seine Essenz doch unverändert belassen worden. Nein, „umgestaltet“ war nicht das richtige Wort. Sie vermittelten eine erstaunliche Unmittelbarkeit, so als hätte Vallazza etwas Entscheidendes, etwas Molekulares, das in dem als Ausgangsmaterial dienenden Altholz schlummerte, herausgearbeitet. Seine Technik schien in einem Arbeiten sowohl mit als auch gegen die Körnung des Holzes zu bestehen. Die Werke fühlten sich nicht „poliert“ oder „geglättet“ an. In einem Dokumentarfilm über seine Praxis beobachtete sie, wie er die in einem Bereich seines Ateliers aufrecht lehnenden Holzbretter streichelte. Seine Finger strichen über das Korn des Holzes, so als erahnte er die Geheimnisse von dessen künftigem und vergangenem Leben.

Adolf Vallazza 100, exhibition view, Museion, 2024. Photo: Daniele Fiorentino

Bei ihrem dritten Besuch fühlte sie sich hingezogen zu Vallazzas 1987 entstandener Zeichnung Totem und dem Bereich unmittelbar um die darauf dargestellte skulpturale Assemblage. Energische weiße Striche brachten die Konturen zum Pulsieren, während die kontrastierend hierzu gesetzten roten Striche auf dem Boden unterhalb der Skulpturensockel zusätzlich die Lichtsetzung unterstrichen. Während dieses Moments des Kontaktes und der Verbindung begann sie, über die semantischen Konnotationen der Begriffe „Korn“ und „Körnung“ sowie über die Vielzahl ihrer Bedeutungen für und Anwendungen in verschiedenen künstlerischen Medien nachzudenken. Die Körnung von Papier, die das Gleiten ihrer Füllfederspitze entweder behinderte oder aber begünstigte und sich auf den hieraus ergebenden Rhythmus ihrer Handschrift auswirkte; die körnige Qualität von Sand und dessen Fähigkeit, den Wirtskörper einer Auster so zu reizen, dass sie eine Perle ausbildet; der Salzgehalt, der in einem durch das Verdunsten von Salzwasser entstandenen Meersalzkorn verschlüsselt ist; Senf-, Weizen- oder Reiskörner, die von Fruchtbarkeit künden; die Körnigkeit eines fotografischen Abzugs als Reaktion auf den hellen Einfall von Licht … Körnung als ein Aspekt der Oberfläche. Als eine Facette von Textur. Korn als Komponente der Belichtung. Als Element einer schattenhaften Leere. Korn als Fleck. Korn als Dichte. Korn im Singular allein in Bezug auf ein größeres Ganzes. Das Korn als Basisgröße ihrer Ehrfurcht.

Adolf Vallazza 100, exhibition view detail, Museion, 2024. Photo: Daniele Fiorentino

Sie fragte sich, ob Vallazza das Korn des wiederverwendeten Altholzes, aus dem seine Skulpturen bestanden, wohl vorsätzlich freilegte. Er ließ die Oberfläche des Holzes gewissermaßen als Träger von dessen gelebten Erfahrungen hervortreten; sie ist ein Archiv seiner Existenz als funktionales Objekt, das in historischen Kontakt mit zahlreichen auf es einwirkenden Kräften gekommen war, bevor es schließlich zum Ausgangsmaterial des Künstlers wurde. Vallazza schien mit jedem Brett in intuitiver Weise gearbeitet zu haben, indem er sich von seiner einzigartigen Form vorgeben ließ, was sie in sich bergen könnte, und in der Folge Muster herausschnitzte oder dekorative Elemente anordnete, um anthropomorphe Wesen zu erschaffen, die trotz ihres Zustands der Reglosigkeit an der Schwelle zur Bewegungsfähigkeit zu verharren schienen.

Die in der Museion Passage aufgestellten Totems, Menhire und vogelähnlichen Formen behaupten ihre Präsenz auch im Museumsalltag und verweigern sich kategorisch dem „Zurücktreten“ in den Hintergrund. Diese skripturalen Skulpturen widersetzen oder entziehen sich einer Kategorisierung, überspannen die Parameter gleich mehrerer Gattungen, indem sie Landschaftselement, figurative Zeichnung, Abstraktion und Konzeptkunst zugleich sind und sich auf einem Achsenpunkt zwischen dem Epischen, dem Volkskundlichen und dem Alltäglichen positionieren. Der Akt und die Kunst des tiefen, galaktischen Zuhörens, die unverkennbar sämtliche Aspekte ihres jeweiligen Erschaffungsprozesses bestimmt haben, unterstreichen auch weiterhin ihre kollektive Porosität. Ihre Körnigkeit fühlt sich epidermal an, empfindungsfähig, ebenso wie die Poren ihrer braunen Immigrantinnenhaut.

Adolf Vallazza 100, exhibition view, Museion, 2024. Photo: Daniele Fiorentino

Rosalyn D’Mello (she/they) ist eine intersektionelle feministische Autorin, Kunstkritikerin, Kolumnistin, Essayistin, Herausgeberin, Pädagogin und Forscherin. Sie ist die Autorin von A Handbook for My Lover (HarperCollins India 2015 / Hardie Grant Australia 2016), einem provokanten erotischen Memoirenbuch. Sie schreibt für führende internationale Kunstmagazine, darunter STIR, und gibt eine wöchentliche Kolumne über Feminismus für die indische Tageszeitung Mid-Day heraus. Aufgewachsen in Mumbai, lebt D’Mello derzeit in Südtirol, wo sie “begegnet den harten alpinen Wintern, indem sie sich auf ihre sinnlichen Erinnerungen an die Sonne Goans verlässt.”

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