Bulletin 2024.7

Wenn Kunst auf dem Postweg reist: Cards from the world

von Duccio Dogheria
Bruno Munari, Künstlerpostkarte, Collage auf Postkarte, 1973 Mart, Archivio del ’900, fondo Fraccaro-Carrega

Im Jahr 1973 zeigte Ugo Carrega im Centro Tool in Mailand Cards from the world, die erste Ausstellung von Mail Art (Postkunst) in Italien. Die Karten, die Teil dieses wegweisenden Vorhabens waren, werden nun in der Museion Passage im Rahmen der Schau Poetry in the box zu sehen sein. Duccio Dogheria, Kurator und Forscher am Archivio del ’900 des Mart in Rovereto, lässt in diesem Textbeitrag für das Museion Bulletin ein außergewöhnliches Abenteuer Revue passieren, das im Zeichen der Erkundung von Wort und Bild stand.

Poetry in the box - Eine Hommage an die Geschichte des Mercato del Sale und an Ugo Carrega, exhibition view, Museion 2024 Photo: Daniele Fiorentino.

Im Mittelpunkt der Ausstellung Poetry in the box steht der Künstler Ugo Carrega (1935-2014). Er war einer der bedeutendsten Protagonisten der Untersuchung von Wort und Bild in Italien und trat auch als Dichter, Übersetzer, Förderer von Künstler*innenbüchern und experimentellen Zeitschriften hervor. Darüber hinaus gründete er mehrere Offspaces in Mailand, in denen sich Galeriearbeit und kreativer Kunstraum miteinander verbanden. Auf den ersten dieser Projekträume, das Centro Suolo (1969/70), folgten das Centro Tool (1971-1973), der Mercato del Sale (1974-1991) und Euforia costante (1993; 1996).

Kann der Mercato del Sale mit über 200 realisierten Ausstellungen als der produktivste dieser Offspaces gelten, so stellte das Centro Tool zweifellos den experimentellsten dar. In ihm wurden zum ersten Mal in Italien avantgardistische Künstler*innengruppen vorgestellt, wie etwa die jugoslawischen Dichter*innen des Signalismus, die japanische Gruppe Vou oder eine Präsentation internationaler Künstlerinnen im Bereich der Text-Bild-Arbeiten. Zudem fanden in der Via Borgonuovo 20 mehr oder weniger bizarre Events statt: so etwa das Opus demercificandi, bei dem die Besucher*innen nach einfachem Ausfüllen eines Formulars die Exponate mit nach Hause nehmen konnten, darunter Werke von Dadamaino, Mirella Bentivoglio, Maurizio Nannucci und Ben Vautier. Von besonderem Interesse sind auch die drei von Carrega organisierten Ausstellungen im Juni 1973: Cards from the world (mit Künstler*innenkarten), Bodies (mit Körperfragmenten von Künstler*innen) und Moments (mit Künstler*innenstatements). Anlässlich der Schließung des Projektraums sollten sie in informeller Weise sämtliche Künstler*innen miteinbeziehen, die sich in verschiedenen Funktionen an seinen Aktivitäten beteiligt hatten. Das hinter den drei Pop-up-Ausstellungen stehende Anliegen erläuterte Carrega so: „Wir wollten ein Fest veranstalten, eine Art Bestandsaufnahme des Centro Tool ziehen und hierfür alle Personen einladen, die auf die eine oder andere Weise in Kontakt mit ihm gestanden hatten, doch war dies aus naheliegenden ökonomischen Gründen unmöglich. Wenn nun die Akteur*innen nicht selbst kommen können, so können sie doch ein Zeichen ihrer Präsenz schicken.“ Aus diesem Grund trafen alle Arbeiten auf dem Postweg ein.

Luciano Caruso, Künstlerpostkarte, Collage auf Karton, 1973 Mart, Archivio del ’900, fondo Fraccaro-Carrega

Das erste dieser Events, Cards from the world, war zugleich die erste Ausstellung von Mail Art in Italien, wie Vittore Baroni, einer der führenden Kenner auf diesem Gebiet, bestätigt. Die Mail Art oder Postkunst ist nichts anderes als der freie und unentgeltliche Austausch von Kunstwerken über das Medium Post. Dabei bedient sich der Künstler oder die Künstlerin des Konzepts der Korrespondenz (in diesem Fall in Form der Künstler*innenkarte, aber auch als künstlerische Interventionen auf Briefumschlägen) und unterläuft gelegentlich den amtlichen Charakter des Postdienstes mithilfe von Künstler*innenstempeln und -briefmarken. Es handelt sich um eine kunstmarktferne und horizontale kreative Praxis, die über ein Netzwerk funktioniert: Zu diesem Zweck startet der initiierende Künstler oder die Künstlerin – in diesem Fall Carrega – meist einen Aufruf über das eigene Kontaktnetz (hier vor allem an diejenigen, die im Centro Tool ausgestellt hatten). Der Aufruf beinhaltet die Ankündigung eines bestimmten Ereignisses (die Abschlussausstellung) und die Angabe des gewählten Themas (die Künstler*innenkarte) sowie eine Einsendefrist für die Arbeiten.

Mirella Bentivoglio, Bum. Per restarti vicina, Künstlerpostkarte, Mischtechnik und Streichholz auf Karton, 1973 Mart, Archivio del ’900, fondo Fraccaro-Carrega

An der Aktion beteiligten sich damals etwa 90 Kunstschaffende mit einer oder mehreren Postsendungen, wobei insgesamt 165 Künstler*innenkarten zusammenkamen. Die in einer großen Bandbreite von Techniken entstandenen Werke verweisen unverkennbar auf enge Berührungspunkte zwischen der Mail Art und Text-Bild-Objekten. Unter den teilnehmenden Künstler*innen finden sich einige klangvolle Namen der internationalen Mail-Art-Szene wie etwa Guglielmo Achille Cavellini, David Zack (transparente Karte), Monte Cazazza (Karte mit fotografischem Selbstporträt), Amelia Etlinger (mit Garn und Pailletten verzierte Karte) oder Robin Crozier (handbemaltes Exemplar). Doch auch zahlreiche internationale Künstler*innen, die sich mit der Beziehung von Wort und Bild beschäftigten, waren vertreten, so etwa Carrega selbst, Ketty La Rocca (Collage), Eugenio Miccini, Luciano Caruso (Collage und händische Interventionen), Ewa Partum, Mirella Bentivoglio (zwei Karten mit Collage und händischen Interventionen), Luciano Ori, Giulia Niccolai (Stickarbeit auf Karton), Herman Damen und Adriano Spatola (perforierte Karte). Hinzu kamen eine Reihe von Fluxus-Künstler*innen wie Ben Vautier und Wolf Vostell sowie eklektische Figuren wie etwa Pablo Echaurren (der die Vorderseite zweier Visitenkarten zusammenklebte, sodass das Karten-Objekt an zwei verschiedene Empfänger*innen verschickt werden konnte), Ugo La Pietra und Bruno Munari, der wiederum das Gesicht von Königin Elisabeth auf einem Postkartenporträt mit schwarzem Karton verdeckte.

Die von Carrega selbst besorgte Ausstellungsgestaltung fiel dahingehend aus dem Rahmen, als sie sich am horizontalen Geist der Mail Art orientierte und das Publikum in direkten Kontakt mit den Werken bringen wollte, ohne jede Barriere oder Trennungen. Das Publikum sah sich sogar genötigt, die Werke mit dem eigenen Körper zu „durchqueren“ und in Bewegung zu setzen: Denn sämtliche Künstler*innenkarten waren gelocht und mithilfe von Nylonfäden unterschiedlicher Länge an der Decke aufgehängt worden. Es bot sich insofern ein besonderer Anblick, als die Arbeiten nicht nur die Wände der Galerie besetzten, sondern den gesamten physischen Raum eroberten.

Sämtliche Werke der Kartenausstellung werden in ihrer Originalschachtel heute im Archivio del ’900, dem Forschungszentrum des Mart in Rovereto, innerhalb der Sammlung Fraccaro-Carrega verwahrt. Begleitet werden sie dort von zwei weiteren Schachteln: Diese enthalten Exponate der beiden anderen von Carrega konzipierten Ausstellungen, die anlässlich der Schließung des Centro Tool stattfanden.

Amelia Etlinger, Künstlerpostkarte, Fäden und Pailletten auf Karton, 1973 Mart, Archivio del ’900, fondo Fraccaro-Carrega

Poetry in the box

Die Ausstellung Poetry in the box wurde kuratiert von Frida Carazzato, wissenschaftliche Kuratorin am Museion, sowie Duccio Dogheria, Kurator und Forscher am Archivio del ’900 des Mart in Rovereto, und erzählt von der 20-jährigen Verbindung zwischen dem Mart und dem Museion. Beide Museumseinrichtungen teilen sich die außergewöhnliche Sammlung des Archivio di Nuova Scrittura, die ihnen Paolo Della Grazia 2020 als Schenkung übergeben hat und in der Ugo Carrega eine Schlüsselstellung zukommt. Die Schau kreist insbesondere um das Konzept der Schachtel – mal ist diese selbst ein Kunstwerk, mal dient sie als Behältnis für Carregas Werke – und stellt zugleich eine Hommage an die Geschichte des Mercato del Sale dar, als dessen Kurator und Direktor der Künstler ebenfalls fungierte. In diesem Mailänder Projektraum verkehrten zwischen 1974 und 1989 zahlreiche der visuellen Poesie verbundene Künstlerinnen und Künstler, die auch in der aktuellen Ausstellung vertreten sind.

Bis zum 01.09.2024

Bulletin 2024

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